WARUM MäNNER DEN ESC LIEBEN – UND MICH DAS ZUR WEIßGLUT TREIBT

Chips und ein paar Alibi-Weintrauben sind bereitgestellt, ein eiskaltes Bier wartet nur auf den ersten Schluck. Mein persönlicher Stimmzettel ist vorbereitet und wartet seinerseits darauf, am Ende des Abends in eine Sammlung aus Notizzetteln mit den Wertungen der vergangenen Jahre zu kommen.

Ich habe den Eurovision Song Contest (ESC) schon in verschiedensten Ländern geschaut, wohl auch deswegen löst er ein seltsam unbekanntes Heimatgefühl in mir aus. Ich mache es mir also gemütlich, als die vertraute Stimme von Barbara Schöneberger aus der Expertenrunde der ARD ertönt. In der Welt des ESC ist dann irgendwie doch alles in Ordnung, denke ich noch. Doch dann beginnt die tatsächliche Show.

Für alle, die das ESC-Finale 2024 verpasst haben, zwei kurze Spoiler vorab: Erstens, Deutschland hat sich mit Isaak dieses Mal bis auf Platz 12 gekämpft. Das ist mittlerweile mehr als ein Grund zur Freude.

Zweitens: Gewonnen hat in diesem Jahr mit Nemo zum ersten Mal eine non-binäre Person.So weit, so passend für den Blick durch die rosarote Brille, die ich für den ESC nur allzu gerne aufziehe.

ESC 2024: Ein Sieg für die queere Szene

Denn hier wird Hoffnung gesät, dass Auftritte wie jener von Nemo mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz schaffen für die LGBTIQ+-Community, zumindest die 150 Millionen Zuschauer:innen scheinen Künstler:innen aus der Szene zu feiern – zu Recht. Dass Europa generell noch immer mit Queerfeindlichkeit zu kämpfen hat, lässt sich an solchen Abenden super ausblenden.

Nicht ausblenden kann ich hingegen das ungute Gefühl, dass sich auch in diesem Jahr spätestens mit Griechenlands Auftritt auf Startplatz 12 breit macht. In knappem Röckchen, mit großen Bambi-Augen und einer ordentlichen Portion "sex sells" tritt dort Marina Satti auf die Bühne und performt ihren Song "Zari".

Und plötzlich erinnere ich mich wieder, warum ich beim ESC im vergangenen Jahr am Ende voller Wut meinen Stimmzettel in die Hosentasche gestopft habe, bevor überhaupt die Jury-Wertung zum Ende gekommen war. Denn der ESC hat noch immer ein Problem mit Feminismus.

Warum der ESC und Feminismus nicht zusammen passen

Eigentlich jeder Song, der von einer weiblichen Person performt wird, setzt auf Herzschmerz, tiefe Blicke, aber vor allem eins: das klassische Frauenbild, das Männer im Fernsehen seit Jahrzehnten nur allzu gerne sehen. Ein Mädchen in aufreizendem Outfit, dazu ein lasziver Blick und der Eindruck, der eigene Wille sei ohnehin schon abgestellt.

Zwar konnte seit Beginn der 2000er Jahre keine Frau, die solche Klischees reproduzierte, einen ESC-Sieg einfahren – welch Wunder. Trotzdem scheinen viele Produzent:innen (oder wahrscheinlich einfach Produzenten) sich einfach nicht von dem verstaubten Britney-Spears-Image lösen zu wollen.

Während die meisten beim haarigen Hintern von Windows95man pikiert wegschauen und die unkonventionellen Outfits von Nemo eigentlich auch nur akzeptiert werden, weil die Person "ja zumindest singen kann", scheinen viele Männer den ESC vor allem wegen der Künstlerinnen zu schauen, die ihnen das Gefühl geben, die Welt wäre noch "in Ordnung".

Nicht nur bei Marina Satti dienen kurze Röcke dem Hinwegtäuschen über musikalische Leere, auch seltsame Volkslieder aus Armenien schaffen es dank des kurzen Rocks und den mädchenhaften Zöpfen von Sängerin Ladaniva am Ende auf Platz 8. Besser kann eine Männerfantasie nicht inszeniert werden.

Natürlich sind knappe Outfits im Allgemeinen kein Problem, wenn eine Frau im 21. Jahrhundert sich eigenständig dafür entscheidet und das Ganze auch lebt. Bestes Beispiel vom diesjährigen ESC ist die Italienerin Angelina Mango.

Nemo gewinnt den ESC 2024 – aber da geht doch noch mehr

Auch bei ihrem Auftritt zeigt sich ein bisschen Übertreibung in alter Eurovision-Manier und vor allem eine gute Portion italienische Theatralik. Aber zumindest steht hier nicht die vom Patriarchat geprägte Vorstellung eines weiblichen Körpers im Vordergrund.

Denn was in den Dutzenden mädchenhaften Auftritten des ESC passiert, ist weder Emanzipation noch Kunst. Es ist eine Beleidigung gegen ein Europa, das sich feministisch nennen möchte und gegen die eigentlich so liebevolle Community, die der Wettbewerb hervorgebracht hat.

Denn Persönlichkeiten wie Conchita Wurst und jetzt Nemo zeigen, dass der ESC durchaus den Zahn der Zeit widerspiegelt.

Meldung

Politische Inhalte werden zwar beim Musikwettbewerb kategorisch abgelehnt. Ob das gut ist, darüber lässt sich in Zeiten wie diesen sicher auch streiten. Unbestritten hingegen ist, dass ein ESC mit queeren Gewinner:innen durchaus auch über die Sexualisierung von weiblichen Körpern sprechen muss.

Was für mich am Ende des Abends erneut bleibt, ist der fade Beigeschmack von einer Musikindustrie, die offenbar noch immer von einem männlichen Blick dominiert wird.

Mein Stimmzettel schwimmt in der schalen Lache des Wassers, das von meinem längst nicht mehr kalten Bier herunterrinnt – dann bewahre ich ihn dieses Jahr eben nicht auf. Vielleicht muss man sich an einen solchen Abend auch gar nicht erinnern.

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