BILDERBUCH LIVE IN BERLIN: EINMAL WIE GANZ NEU GEBOREN FüHLEN

Bilderbuch traten vor zehn Jahren den Austropop-Hype los. Nun sind sie mit neuer Show auf Tour und wollen das Leben ihrer Fans wenigstens komplett verändern.

Es muss schon mindestens eine gemeinsam erlebte Neugeburt sein, heute Abend. Maurice Ernst, Frontmann von Bilderbuch, befragt sein Publikum jedenfalls mehrfach, ob sie dabei sind - bei der Selbsterneuerung, bei dem Gebären einer unverbrauchten Version ihres Selbst. Die Antwort: Jubel.

Inwiefern dieser hoffentlich metaphysisch gemeinte Akt sich während der knapp zwei Stunden in der ausverkauften und pickepacke vollen Columbiahalle wirklich vollzieht? Wir werden sehen.

Der Schalter zu den LEDs wurde gefunden

Was nicht erst eine Erneuerung braucht, sondern schon ganz innovativ auf die Bühne gestellt wurde, ist das Bühnenset zur gerade gestarteten Softpower-Tour. Benannt wurde sie nach der im Sommer 2023 erschienen EP, auf der die Band lässig die Hochphase des Britpop der Jahrtausendwende weiterdenkt. Y2K-Style findet sich auch bei den Bandmitgliedern: Die Hosen enden an der Hüfte, es gibt Spaghetti-Tops aus Satin, Glitzergürtel und rote Lack-Ballerinas.

Gerahmt wird Bilderbuch von einem Halbkreis aus LED-Bildschirmen, hell erleuchtet, präzises Bild, alles gestochen scharf. Gezeigt werden fein abgestimmte Bilder, die perfekt zu den Songs passen: verträumte Berglandschaften, wilde Wälder im Schneesturm, Feuersäulen und ganz am Ende der Zugabe, beim Song „Checkpoint“, der Checkpoint aus der Vogelperspektive.

Ansonsten ist das übergeordnete Thema „Opulenz“: Ein halber Engelsflügel dient als Gitarrenhalter, ein antiker Säulenfuß sorgt für ein kleines Podest auf der Bühne, ein Platz für den Frontmann, der auf einer solchen Vorrichtung genau richtig wirkt. Überhaupt scheint die Freddy Mercurysierung des Maurice Ernst vorangeschritten: Wie ein stolzer Hahn schreitet er über die Bühne – zackiger Schritt und geschwellte Brust – und trägt sein ständerloses Mikro spazieren. Süffisanz ist permanente Pose. Selbst Ansagen, in denen er das Publikum animieren möchte, sei es zum Klatschen oder Mitsingen, klingen, als sei man ihm dringend etwas schuldig.

Wie klingen die neuen Songs?

Der Wiener Schmäh ist natürlich eines der Verkaufsargumente Bilderbuchs: Es ist Lässigkeit, unaufgeregte Coolness und elegante Abgefucktheit zugleich. Ihr erster großer Hit „Maschin“ von 2015 war auch deshalb ein Befreiungsschlag für eine gewisse Spielart des Schlagers: eine, die mit Klischees kokettiert, intelligent und witzig ist und dennoch die Folklore ernst meint.

Wenn die Deutsche Bahn nicht funktioniert, muss man halt etwas anderes legalisieren.

Maurice Ernst, vor dem Song „Spliff“

Seither hat sich die Band permanent weiterentwickelt, sich mal in Psychedelik verloren oder mit verträumten 80er Synthies geflirtet und bei all dem ihre Handschrift beibehalten. Vielleicht brauchen Bilderbuch auch deshalb nicht lange, um beim Konzert in die Gänge zu kommen. Es geht direkt los, und man wird vom Fleck abgeholt. Ganz egal, ob man die neueren Songs kennt oder nicht.

Irgendwann wird aber natürlich erwähntes „Maschin“ gespielt. Es wird gemeinsam zu Bungalow gegrölt, zu „Willkommen im Dschungel“ gepogt. Die Kifferhymne „Spliff“ am Ende hätte es für die meisten als Erlaubnis nicht gebraucht, süßlich nach Gras roch es auch schon vorher, die Ansage vor dem Song: „Wenn die Deutsche Bahn nicht funktioniert, muss man halt etwas anderes legalisieren.“

Gesellschaftskritik wird sowieso gerne eingestreut: Der entfesselte Berliner Wohnungsmarkt ist Thema oder die staatliche Musikförderungen, die in Deutschland wie in Österreich hauptsächlich dem klassischen Bereich zugute kommen.

Wie sieht es am Ende aus, mit der vollzogenen Neugeburt? Hat eine Grunderneuerung stattgefunden? War dieses Konzert so grunderschütternd, dass man die Welt danach mit anderen Augen sieht? Natürlich nicht. Viel mehr wankt man danach, im eigenen Schweiß gebadet, weil zu ekstatisch getanzt, in die verregnete Berliner Sonntagnacht – für manche mag sowas einer Autopoiesis ja aber gleichkommen.

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