SCHLECHTE ERNäHRUNG: WOLLEN WIR UNS WIRKLICH ZU TODE ESSEN?

Der Apfel als tägliche Gesundheitsration, der nach dem bekannten englischen Sprichwort den Doktor auf Distanz hält, ist für Millionen Deutsche zur verbotenen Frucht geworden. Zehn bis zwanzig Prozent der Deutschen leiden nach seriösen Schätzungen inzwischen unter einer Apfelallergie, eine sprunghaft gestiegene Zahl, die sich die Ärzte lange nicht erklären konnten und der die Allergologen von der Charité in Berlin auf den Grund gehen wollten.

Sie ließen Apfel­allergiker erst handelsübliche Früchte aus dem Supermarkt essen, mit allen zu erwartenden Reaktionen. Dann gaben sie ihnen unverfälschte Ursorten von alten Streuobstwiesen, wunderten sich, dass sie von ihren Probanden problemlos toleriert wurden, und kamen dem Rätsel schließlich auf die Spur: Die Agrarindus­trie hat Hunderte alter Sorten aussortiert, um sie durch eine Handvoll neuer Züchtungen mit wundersamen Eigenschaften zu ersetzen.

Das Unheil der Allergene

Diese Frankenstein-Äpfel sind einfach zu transportieren und gut zu lagern, schmecken süß wie Honig und werden nach dem Anschneiden nicht einmal braun. Welcher Preis für die Metamorphose gezahlt werden muss, ahnen die Apfelesser erst, wenn ihnen die Zunge pelzig wird und das Jucken beginnt: Nicht nur gesunde Antioxidantien, sondern auch sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole sind von den Konzernen weggezüchtet worden, weil sie für die unerwünschte Säure und die unappetitliche Verfärbung verantwortlich sind. Polyphenole hemmen aber auch Entzündungen, schützen vor Krebs und binden die Allergene im Apfel, die jetzt bei so vielen Menschen ihr Unheil anrichten können.

Der Industrieapfel ist nur ein Beispiel für die desaströsen Fehlentwicklungen unserer Ernährung. Er ist eines der vielen Menetekel für die befremdliche Tatsache, dass wir so systematisch wie kein anderes Lebewesen unsere Gesundheit beim Essen freiwillig ruinieren, und zieht damit die Vernunftbegabung des Homo sapiens ernsthaft in Zweifel. Denn wir nehmen es ach­selzuckend hin, dass schlechte Ernäh­rung inzwischen für mindestens vierzig Prozent aller Krankheiten in Deutschland und zu ei­nem guten Teil für die eine Milliarde Euro verantwortlich ist, die wir jeden Tag für unser Gesundheitssystem ausgeben – makabre Zahlen, die man sich wie eine Milchschnitte auf der Zunge zergehen lassen sollte.

Wir brauchen eine Deindustrialisierung

Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Fettleber, Herzinfarkt, chronische Nierenerkrankungen, all das ist der Tribut, den wir für unsere widersinnigen Ernährungsgewohnheiten entrichten. Und anstatt sie zu ändern, machen wir von Jahr zu Jahr alles nur noch schlimmer. So droht uns eine düstere Zukunft, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass uns allein die Deindustrialisierung unserer Lebensmittel und unserer Ernährung retten kann. Der Fortschritt muss eine Rückkehr in die Vergangenheit sein, in die Zeit der Hunderten von Apfelsorten.

Doch lieber sind wir ein krankes Land, in dem die Werbespots vor der „Tagesschau“ fast nur noch fragwürdige Mittelchen gegen allerlei körperliche Malaisen anpreisen, während davor und danach so schamlos wie unablässig hochverarbeitete Lebensmittel beworben werden. Und wehe, man versucht, das zu ändern: Als Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir im vergangenen Jahr Kinder vor Werbespots für solche Schweinereien schützen wollte, ging ein Aufschrei durch die Repu­blik, weil offensichtlich selbst Kindern das Recht auf Selbstruinierung eingeräumt wird – ausgerechnet Kindern, die nach einer Untersuchung der Universität Hamburg tagtäglich fünfzehn Werbespots für ungesunde Lebensmittel sehen und damit in 92 Prozent der Werbesendungen, denen sie ausgesetzt sind, mit Süßigkeiten und Fast Food konfrontiert werden.

Die Geringschätzung des guten Essens mag in Deutschland eine unheilvolle Tradition haben. Doch das, was wir uns jetzt selbst antun, grenzt an kulinarischen Sadomasochismus. Wir haben nicht nur die wunderbare Vielfalt unserer Äpfel einem fragwürdigen Fortschritt und einer trostlosen Einfalt geopfert, wir haben nicht nur unsere Nutztiere zu Industrieprodukten degradiert. Wir begeben uns auch freiwillig in die Fänge der hoch­verarbeiteten Lebensmittel, obwohl die dramatischen Schäden, die sie im Körper anrichten, längst wissenschaftlich erwiesen sind. Aus diesem legalen Gift für unsere Gesundheit besteht die Hälfte des deutschen Speiseplans, während es etwa in Italien nur siebzehn Prozent und in Frankreich siebenundzwanzig Prozent sind – und kaum jemand scheint die Analogie ziehen zu wollen, die auf der Hand liegt: Italiener und Franzosen leben länger als die Deutschen und sterben seltener an Herz-Kreislauf-Krankheiten, was wahrscheinlich am gesunden Klima liegt.

Hohes Risiko von Darmkrebs

Stattdessen essen wir unverdrossen mehr prozessiertes Fleisch in Form von Wurst, Leberkäse oder Aufschnitt als alle anderen europäischen Nationen und greifen so oft zu Keksen aus der Tüte und Kuchen aus dem Kühlregal wie kaum eines unserer Nachbarvölker. Vielleicht wäre es hilfreich, die Ergebnisse einer großen Studie der Sorbonne als Warnhinweis auf die Verpackungen dieser Pseudonahrungsmittel zu kleben, die eine eindeutige Korrelation zwischen dem Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel und dem Krebsrisiko belegt hat. Und kleingedruckt könnte man eine amerikanische Untersuchung mit 200.000 Teilnehmern daruntersetzen, die zu dem Schluss kommt, dass eine solche Ernährung das Darmkrebsrisiko sogar um neunundzwanzig Prozent erhöht.

Nichts ist gut an hochverarbeitetem Essen außer dem Profit der Nahrungsmittelindustrie. Es enthält zu viel Fett, Zucker und Salz, führt zu Übergewicht und damit zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, nicht nur an Krebs, sondern auch an Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken. Es hat ein hohes Suchtpotential, weil in den Sensorik-Labors der Lebensmittelkonzerne systematisch das angenehme Mundgefühl, der intensive Geschmack und die leichte Kaubarkeit maximiert werden.

Es lässt die Darmflora verarmen, zerstört die Bakterienvielfalt und verdrängt die gesunden Mikroben von Obst und Gemüse. Es enthält schädliche Zusatzstoffe wie Emulgatoren, die oft zu chronischen Darmentzündungen und schließlich zu Darmkrebs führen können. Es steckt wegen der komplexen Verarbeitungsprozesse voller Schadstoffe wie Mikroplastik oder Mineralöl, Hinterlassenschaften von Maschinen, Tanks, Förderbändern und Verpackungen. Und es jubelt uns lauter industriell hergestellte Transfette unter, die Margarine, Chips, Pizzen, Pommes frites, Kekse, Cremes oder Fertig-Croissants geschmeidig und hitzeresistent machen. Ungesättigte Fettsäuren wären viel besser, doch sie werden schnell ranzig, sind nicht lange haltbar und finden deswegen in der industriellen Essenherstellung keine Verwendung.

Verhaltensweisen wie im Paläolithikum

Die einzige Entschuldigung, die der Mensch für sein widersinniges Tun in Anspruch nehmen kann, ist die Evolution. Sie ist schuld daran, dass das Gehirn un­ser größter Feind bei der Ernährung ist. Fett und Zucker lassen es noch immer das Glückshormon Dopamin produzieren, ob­wohl wir längst nicht mehr Mammutherden hinterherjagen und Beeren in den Wäldern des Paläolithikums sammeln. Seit der Steinzeit hält unser Gehirn ein Verhältnis zwischen Kohlenhydraten und Fett von fünfzig zu fünfunddreißig für die ideale Mischung, um schnell an viel Energie zu kommen.

Bei dieser Kombination jubiliert der Nu­cleus accumbens, das zentrale Belohnungszentrum, und lässt uns gierig zum Nachschlag greifen. Genau das macht sich die Nahrungsmittelindustrie zunutze und stellt Chips, Erdnussflips, Schokolade oder Nougatcreme mit diesem Verhältnis von Kohlenhydraten und Fett her. Und die Fast-Food-Ketten finden es fabelhaft, dass ihr sogenanntes Essen einen Glukoserausch auslöst. Denn so fällt der Blutzucker sofort wieder, man bekommt noch vor dem letzten Bissen abermals Hunger und bestellt einen weiteren Cheeseburger.

Systematischer Etikettenschwindel

Die systematische Weigerung, sich mit den Konsequenzen unserer Ernährung auseinanderzusetzen, grenzt an Selbstverstümmelung. Anstatt nach den Gründen für all die Allergien, Unverträglichkeiten, Verdauungsstörungen, Reizdärme zu fragen, lassen wir uns lieber an der Nase herumführen – von irgendwelchen Probiotika-Pillen, die dreist Wunderheilung versprechen, oder von Etiketten, die uns frech anlügen. So steckt in den meisten Protein Shots gar nicht mehr Protein als in normalen Milchprodukten. Und dass Fertigmüsli uns nur deswegen fit macht, weil es mit einem Fitnessetikett verschönert ist, können nur notorische Selbstbetrüger glauben. Sie gibt es massenhaft, wie eine Studie der Technischen Universität München bewiesen hat: Tatsächlich fühlte sich die Mehrheit der Teilnehmer fitter, nachdem sie Fitnessmüsli gegessen hatte, als nach einer Mahlzeit ohne ein solches Versprechen.

Der Selbstbetrug bei der Ernährung hat offensichtlich Methode. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2023 hält sich noch nicht einmal ein Drittel der Deutschen für übergewichtig, in Wahrheit sind es mehr als die Hälfte. Und fast jeder zweite Befragte gab an, allein aus Zeitmangel Fertigprodukte zu essen – was die drängende Frage nach der Hie­rarchisierung von Zeit in einer Gesellschaft aufwirft, die weniger Zeit mit Ar­beit verbringt als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte und stattdessen ihr halbes Leben in der digitalen Welt verschleudert.

Wie einfach es wäre, mit Messer, Gabel und Löffel sehr viel Zeit zu gewinnen, hat eine Studie aus Norwegen über den Einfluss der ungesunden Ernährung auf die Lebenserwartung gezeigt: Wer im Alter von vierzig Jahren aufhört, viel Fleisch und Wurst – die oft hochverarbeitet ist – und stattdessen mehr Hülsenfrüchte zu essen, verlängert sein irdisches Dasein um etwa zehn Jahre. Wer mit siebzig diesen weisen Entschluss fasst, gewinnt immer noch bis zu fünf Jahre. Die Lebenserwartung in Norwegen liegt üb­rigens bei Frauen um zwei und bei Männern um drei Jahre höher als in Deutschland, was dieses Mal nicht am gesunden Klima liegen kann.

Charakterschwäche ist keine Entschuldigung

Längst ist die segensreiche Wirkung der gesunden Ernährung wissenschaftlich dokumentiert, ohne dass die Mehrheit der Deutschen daraus Schlüsse zöge. Und das liegt entgegen landläufiger, wie ein Mantra wiedergekäuter Meinung nur selten am Geld. Nicht mehr als zehn Prozent der Befragten nannten in der Untersuchung der Techniker Krankenkasse den Preis als Grund dafür, auf gesundes Essen zu verzichten. Siebenunddreißig Prozent waren immerhin so ehrlich, ihre eigene Charakterschwäche dafür verantwortlich zu machen.

Es ist ein lebensbedrohlicher Verzicht. Man schlägt die Polyphenole in Obst und Gemüse aus, die das Herz schützen, Entzündungen vorbeugen, den Blutzucker senken, die freien Radikalen neutralisieren und damit die Zellen vor Schäden bewahren. Man lässt sich Hülsenfrüchte entgehen, die voller gesundem Eiweiß und lebensnotwendigen Ballaststoffen stecken; sie wandeln Darmbakterien in kurzkettige Fettsäuren um und sind die beste Garantie für eine gesunde Darmbarriere, die Giftstoffe nicht überwinden und damit den Darm auch nicht entzünden können. Sogar Depressionen kann ge­sunde Ernährung lindern, wie erste, wenn auch noch kleinere Studien nahelegen – so wie eine aus­tralische Untersuchung aus dem Jahr 2017: Eine Gruppe hochgradig depressiver Probanden stellte ihren Speiseplan auf die Mittelmeerdiät mit viel Fisch, Gemüse, Olivenöl um, und nach drei Monaten ging es einem Drittel von ihnen deutlich besser. In der Fertigpizza-Kontrollgruppe waren es hingegen nur acht Prozent.

Die Zukunft unserer Ernährung, die Lösung aller Probleme ist so einfach, dass das Vernünftige fast schon banal klingt: Wieso vertrauen wir nicht wieder Hippokrates und begreifen, dass die Nahrung unsere Medizin und die Medizin unsere Nahrung sein sollte? Wieso verstehen wir nicht, dass uns unser Körper für alles, was wir in ihn hineinkippen, eine Rechnung stellt? Wieso sind wir nicht so schlau wie die Babylonier vor 4000 Jahren und machen schwer verdauliches Essen mit Kreuzkümmel bekömmlich, anstatt Reizdarmpillen wie Bonbons zu essen? Wieso geben wir uns mit Äpfeln zufrieden, die vergiftete Geschenke zur Profitmaximierung sind? Wieso essen wir Hühner, die in achtundzwanzig Tagen zur Schlachtreife geprügelt werden? Wieso kaufen wir Karotten, die nach Düngemitteln stinken, statt nach Erde zu duften?

Am wichtigsten aber ist die Selbsterkenntnis: Wir müssen wieder lernen, dass gutes Essen gut schmeckt und schlechtes schlecht, anstatt uns vom Fett, Salz und Zucker der Lebensmittelindus­trie den Geschmack irritieren und letztlich verderben zu lassen. Wir müssen verinnerlichen, dass die Küche kein Gefängnis und der Herd keine Folterbank ist, sondern ein Ort und ein Mittel der Freude. Wir müssen uns wieder die Zeit nehmen, mit guten, frischen, natürlichen Zutaten zu kochen, anstatt den Lieferdienst anzurufen oder das Tiefkühlregal zu plündern. Wir müssen begreifen, dass Geschmack, Gesundheit und Glück Geschwister sind. Das und nichts anderes muss unsere Zukunft sein.

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