„HUMOR IST EINE FORM VON THERAPIE“: COMEDIAN NIKITA MILLER üBER IDENTITäT, KLISCHEES UND ESSIGESSENZ

Interview

„Humor ist eine Form von Therapie“: Comedian Nikita Miller über Identität, Klischees und Essigessenz

Am Donnerstag, 16. Mai, tritt Nikita Miller in der Stadthalle in Baunatal auf. Ein Interview mit dem schwäbisch-russische Comedy-Star.

Baunatal – Er war Türsteher, Umzugshelfer, Informatiker und Kampfsport-Coach, schrubbte Käfige in Europas größtem Kaninchenzuchtverein, kellnerte und studierte Philosophie und Rhetorik: Nikita Miller hat sich im Laufe der Jahre immer wieder neu erfunden.

Heute ist der Comedian regelmäßig im Fernsehen zu sehen, hat Millionen an Klicks auf Youtube gesammelt und füllt mit seinen Live-Solo-Shows die Hallen. Am Donnerstag, 16 Mai, tritt der 37-Jährige im Zuge seiner neuen Tour „Im Westen viel Neues“ ab 20 Uhr in der Stadthalle in Baunatal auf.

Vor Auftritt in Baunatal: Comedian Nikita Miller im Interview

Im Interview spricht der Künstler über Humor, die Bedeutung von Klischees, die eigene Identität – und vieles mehr. Nikita Miller legt Wert darauf, geduzt zu werden. Diesem Wunsch sind wir nachgekommen.

Zur Person

Nikita Miller (37) kam 1987 in Temirtau im heutigen Kasachstan zur Welt. Er verbrachte seine Jugend in der Ukraine und im Schwabenländle. Zwischen einer Vielzahl von Jobs studierte er Medieninformatik, Philosophie und Rhetorik. Seit 2016 tritt er als Comedian auf, unter anderem bei NightWash, dem Quatsch Comedy Club und dem Haus der Springmaus in Bonn. „Im Westen viel Neues“ ist sein drittes Soloprogramm. Miller lebt mit seiner Frau in Köln. (rdg)

Nikita, zunächst zur Kulinarik. Welche Teigtasche aus dem Osten bevorzugst du; Pelmeni, Wareniki oder doch eher Manti?

Ich liebe Pelmeni, aber die Zubereitung ist extrem aufwendig für so ein kleines Vergnügen. All diese kleinen Dinger zu kneten... Also wohl eher Manti. Am liebsten mit Essigessenz.

Nutzt man diese nicht sonst, um das Klo zu putzen?

Ja, genau der. Aber gut verdünnen, sonst verbrennst du dir den Rachen. (lacht)

Kommen wir zu deiner Show. Worum geht es in „Im Westen viel Neues“?

Im Allgemeinen geht es um die Unterschiede zwischen der post-sowjetischen und der deutschen Erziehung. Darum, mit welchen Fähigkeiten und Handicaps du in dieses Land kommst. Wo gelingt Integration und wo sind ihre Grenzen? Das fängt bei so Kleinigkeiten an, wie wenn ich meinen Eltern sage, ich finde keinen Job, der mir Spaß macht. Das war für die total irritierend. Spaß bei der Arbeit? Das war für meinen Vater nicht greifbar.

Wie lautete sein Rat?

Das ist nicht schwer: Du musst einfach ein Hobby finden, dass noch viel beschissener ist. Dann freust du dich auf die Arbeit.

Und welche Botschaft verbirgt sich dahinter?

Zunächst, dass keine Lage aussichtslos ist. Und dass uns beigebracht wird, Situationen zu ertragen, statt sie zu verändern.

Du hast von Berufs wegen ständig mit Humor zu tun. Wie definierst du diesen?

Humor ist eine Form von Therapie. Wenn ich bei meinen Shows Geschichten über familiäre Probleme erzähle und die Leute lachen, merke ich durch die Augen der Zuschauer, wie bescheuert das Ganze ist, was ich durchgemacht habe. Aber es ist auch eine Therapie für den Zuschauer. Auf einfache, humoristische Weise: In dem Moment, in dem ich über Gewalt im Elternhaus spreche, lachst du. In erster Linie über den Witz, aber es steckt eine Erkenntnis darin. Eine Art Entlarven der Wahrheit. Mit Humor sickert diese durch. Gegen Humor kann man sich nur sehr schwer wehren.

Wann braucht man Humor am meisten?

Eigentlich immer. Humor ist ein Ventil für Erkenntnisse, für Therapien, für Entladungen. Gerade in Zeiten von Social Media, wo alles schneller und hektischer wird und der Druck immer größer wird, ist ein Verzicht auf Humor nahezu unmöglich.

Weinen und Lachen sind Emotionen, die dicht beieinanderliegen, sich manchmal überschneiden. Arbeitest du in deinen Shows schmerzhafte Erinnerungen oder Momente auf?

Ja und nein, irgendwie schon. Ich erzähle Geschichten, über die ich schon drüber hinweg bin. Wenn du in einem Thema emotional zu tief drin bist, ist es sehr schwer, eine Nummer daraus zu machen. Es ist manchmal ein schmaler Grat zwischen Humor- und Schmerzebene. Es besteht auch die Gefahr, zu sehr ins Lächerliche abzurutschen, dann wird es abstrus. Ich rate jedem Comedian davon ab, über den Schmerz zu reden, über den er selbst noch nicht hinweggekommen ist. Als Comedian betreibe ich weder Seelsorge noch eine Selbsthilfegruppe. Ich unterhalte das Publikum – und rege es dabei manchmal zum Nachdenken an.

Ob Russe oder Schwabe: Du spielst bei deinen Auftritten gerne mit Klischees. Wie viel Wahrheit steckt in diesen?

Irgendwo kommen die Klischees ja her. Ein Beispiel: Das Klischee, Russen würden viel saufen, stammt noch aus Zeiten extremer Armut in Russland, sowohl im Zarenreich als auch unter Stalin. Um die Umstände zu ertragen, konnten viele oft nicht anders, als den eigenen Frust in Alkohol zu ertränken. Aber einige Statistiken zeigen, dass der Alkoholkonsum pro Kopf in Russland in den vergangenen Jahren niedriger war als in Deutschland – zumindest vor dem Krieg in der Ukraine. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Deutsche in Touristengebieten heute oftmals unbeliebter sind als Russen – oder ähnlich unbeliebt.

Also verbirgt sich hinter Stereotypen doch ein Funken Wahrheit?

Sie sind eine Art Messwert, eine Orientierung: Wir wollen Dinge vereinfachen und zusammenfassen, um uns in der Welt zurechtzufinden. In den Shows spiele ich gerne damit, versuche aber auch, Vorurteile zu entlarven.

Kommen wir zum Thema Identität. Du bist in Kasachstan geboren, in der Ukraine aufgewachsen und lebst heute in Deutschland.

Früher war ich für die meisten Menschen hier einfach der Russe, dort der Deutsche. Vorbehalte, Vorurteile und Rassismus gab es immer und überall. Mit dem Krieg haben sich die Dinge dann geändert, man spürt eine große Spaltung. Noch immer sind viele Russen und Deutschrussen bei meinen Auftritten im Publikum aber einige haben angefangen mich zu boykottieren, Tickets zu stornieren.

Was ist der Grund dafür? Was wirft man dir vor?

Die einen sagen, er ist Russe, die anderen sagen, nein, er ist gar kein echter Russe. Die nächsten sagen, eigentlich ist er Ukrainer. Ich habe damit meinen Frieden geschlossen. Soll doch jeder in mir sehen, was er will. Letztlich sind das alles nur Projektionen.

Bringt das nicht auch Vorteile? Immerhin kannst du dir so rauspicken, was du selber willst.

Ganz genau. Ich definiere meine Identität in erster Linie auch nicht über Herkunft. Ich lebe jetzt hier in Deutschland und ihr könnt mich alle sehen, wie ihr wollt.

Vermutlich werden dir aufgrund deiner Herkunft oft Fragen zum Ukrainekrieg gestellt. Welche Frage dazu kannst du nicht mehr hören?

Ganz allgemein: „Was sagst du zum Ukrainekrieg?“ Ich glaube, es gibt kaum eine Frage, die mir zu dem Thema noch nicht gestellt wurde.

Du bist unter anderem in Vellmar, Wolfhagen und Melsungen aufgetreten. Was verbindest du mit Nordhessen?

Bei aktuell über 100 Auftritten im Jahr kann ich mich an einzelne Städte oft kaum erinnern. Aber ich war mehrmals in Kassel und die Stimmung und das Publikum waren bei meinen Auftritten in der Region immer super. Die Leute wurden schnell warm mit mir, wir hatten Spaß zusammen und es waren tolle Abende.

Du stehst ständig in der Öffentlichkeit. Wie geht man mit dem Druck um?

Da rate ich einfach jedem, mit sich selbst ins Reine zu kommen, dann brauchst du die Öffentlichkeit nicht zu fürchten. Sieh zu, dass deine Ansichten und Ideologien moralisch vertretbar sind, dann musst du auch nicht heucheln oder dich verstellen. Wenn du hinter deinem Auftreten und deinen Überzeugungen stehen kannst, brauchst du auch nicht ständig zu differenzieren; was kann ich sagen, was nicht?

2023 bist du in Bremen angegriffen und angestochen worden. Hat dich das als Mensch verändert?

Ich habe auf jeden Fall noch mehr Ehrfurcht vor dem Leben bekommen. Das Niveau auf der Straße hat sich verändert. Ich war lange Türsteher und klar haben wir Leute durchsucht und ab und zu auch Waffen gefunden, aber persönlich habe ich nie eine Messerstecherei erlebt. Jetzt herrscht mehr Gewalt, Leute bewaffnen sich, Hemmschwellen sinken. Hätte ich das vor dem Angriff schon realisiert, hätte ich vermutlich einen eleganteren Weg aus der Situation heraus gefunden, die ich unterschätzt habe. Heute bewege ich mich in Menschenmassen vorsichtiger, bei manchen Auftritten mit Security-Personal.

Also suchst du zu dir Unbekannten mehr Distanz?

Ich verlasse mich mehr auf meine Instinkte. Fühle ich mich bedrängt, entziehe ich mich der Situation schneller. Aber ganz auf Distanz gehen oder mich dem Niveau der Straße anpassen will ich nicht. Dafür müsste ich Seelenanteile in mir boykottieren und das kann ich nicht.

Wer ist die lustigste Person, die du kennst?

Mit ihrem außerordentlichen Humor bringt mich meine Frau jeden Tag zum Lachen. Ich sage ihr seit langer Zeit, dass sie eigentlich auf die Bühne gehört. Bevor er aus der Comedy-Szene zurückgetreten ist, war ich großer Fan von Nico Semsrott. Er hat eine unfassbar schöne, trockene Art, die Dinge beim Namen zu nennen. Immer wenn ich Zweifel an meinen Sets hatte – ob ich zu viel erzähle oder zu viel kritisiere – habe ich mich von seinen Videos inspirieren lassen. Dann kam der Gedanke, du kannst das, du darfst das. (Raphael Digiacomo)

Tickets

Tickets gibt es ab 30,65 Euro (ermäßigt 25,85) unter eventim.de sowie an der Abendkasse.

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