«MIR WäRDET IMMER MEE . . .»: SO WURDE DIE ZüRCHER SüDKURVE ZUM GRöSSTEN JUGENDHAUS DER SCHWEIZ

Was denken Sie, wie viele Saisonkarten hat der FC Zürich in seiner Fankurve vor 20 Jahren verkauft? Waren es 1000 oder gar 2000 Abos? Nein, es waren nur 200.

Heute sind es 3000 Saisonabonnements.

Woher kommt dieser enorme Zuwachs? Und wie funktioniert eine der grössten Fankurven der Schweiz? Um diese Fragen zu beantworten, muss man die Geschichte der Zürcher Südkurve kennen. Und die Geschichte der Schweizer Fankultur.

Vor den 1960er Jahren sind es ausschliesslich Männer mit Hut und Veston, die zum Fussball gehen. Die Stadien sind gut besucht, Zehntausende schauen sich regelmässig die Spiele an. Die Fangesänge beschränken sich auf einzelne «Hopp»-Rufe. Mit Beginn der 1970er Jahre ändern sich die Stimmung und das Publikum. Britische Hooligans kommen durch den Europacup in die Schweiz. Sie prügeln sich, trinken reichlich Alkohol und singen ihre eigenen Lieder. Statt Anzug und Krawatte tragen sie Marken wie Lacoste oder Adidas. Dieser «Casual» genannte Kleidungsstil prägt bis heute die Fankurven in den europäischen Fussballstadien.

Gleichzeitig mit den «Casual-Hooligans» kommen in den 1970ern Kuttenträger in die Schweiz und nach Zürich. Männer in Jeansjacken mit bunten Aufnähern machen sich in den Fankurven breit. Sie stehen für die Arbeiterklasse und gründen auch die ersten Fanklubs. Beim FC Zürich heissen sie Fanclub Letzi und Blue Wizards. Doch die Zürcher Südkurve füllt sich nur spärlich. «Das liegt vor allem an der politischen Ausrichtung einiger Fans», sagt Michael Jucker, der Sporthistoriker und Co-Leiter des FCZ-Museums.

Skinheads gegen Ultras

Wegen dieser Fans stehen rechtsradikale Parolen zwischen 1980 und 1990 beim FCZ auf der Tagesordnung. Auch rassistische Affengeräusche gegen schwarze Spieler der Gegner sind im Letzigrund häufig zu hören. In der ganzen Schweiz prägen Skinheads die Fankultur. Erst Mitte der 1990er Jahre findet in Zürich ein gesellschaftlicher Wandel statt. Der Fussball gewinnt an Akzeptanz in linken Kreisen. «Das hängt auch mit den Secondos aus Südamerika und Italien zusammen», sagt Jucker. In ihren Heimatländern hat der Fussball eine viel grössere Bedeutung als in der Schweiz. Diese Leidenschaft bringen sie mit und tragen sie in die Stadien.

Am Anfang treten sie noch unorganisiert auf. Sie wollen es bunter. So wie es die Ultras, ihre Vorbilder, in Italien und Südamerika seit längerem machen. Sie unterstützen die Mannschaft mit ihren Fangesängen unabhängig vom Spielverlauf – mit mehrstrophigen und melodiösen Liedern. Sie übernehmen dafür Melodien aus der Schlager- und Pop-Kultur und passen sie an. Auch Fahnen und Pyrotechnik gehören zu dieser Kultur.

Die Kuttenträger und Skinheads finden sich in dieser Kultur nicht wieder. Eine gemeinsame Existenz mit den Ultras scheint unmöglich. Die jungen Ultras in Zürich realisieren das und organisieren sich zum ersten Mal. Sie drängen daraufhin die Kutten und Rechten gewaltsam aus dem Stadion. Zum ersten Mal spüren sie, was als Einheit möglich ist. Es ist die Geburtsstunde der ersten Ultra-Gruppierung des FCZ. 1996 gründen sich die «Boys». Bis heute sind sie in der Zürcher Südkurve aktiv.

Politik hat in der Südkurve seither keinen Platz mehr. «Es ist egal, ob jemand politisch links oder rechts steht», sagt der Sporthistoriker Jucker. Dies sei auch einer der Gründe, wieso in einer Fanszene so viele Menschen einen Platz finden. Die Medien präsentieren Ultras oft als Gemeinschaft am Rande der Gesellschaft. Vielmehr sind sie aber ein Spiegel der Gesellschaft, mit all ihren positiven und negativen Seiten. In den Kurven toben sich Jung und Alt aus: Grafikerinnen, Juristen, Arbeitslose, Lehrerinnen, Handwerker, Malerinnen und viele mehr.

Aus Ultras werden Chaoten

Auf die Gründung der Boys folgen zu Beginn der 2000er Jahre weitere Gruppierungen: südamerikanisch geprägte oder italienisch geprägte oder solche, die aus der Skater-Szene kommen. Die Skater vereinen sich unter dem Namen Hallygally, woraus auch die Zürcher Hip-Hop-Crew Radio 200 000 entsteht. Die unterschiedlichen Gruppen haben alle einen gemeinsamen Nenner: die Südkurve. Und diese Südkurve wächst nun von Jahr zu Jahr – und mit ihr die Ultra-Kultur in der Schweiz.

In den Stadien im ganzen Land erklingen nun Fangesänge. Die Ultras unterstützen ihre Mannschaft mit aufwendig gebastelten Choreografien: Handgemalte, 40 Meter grosse Bilder werden präsentiert, Rauchtöpfe, Leuchtfackeln und Konfetti ergänzen die Bilder. Eine durchchoreografierte Inszenierung. Die Medien bejubeln diese Art der Unterstützung. Der SRF-Kommentator Beni Thurnheer spricht regelmässig von einer «in unserem Land leider so selten gewordenen Stimmungskulisse».

Erst im Vorfeld der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz ändert sich die öffentliche Meinung – Bund und Kantone setzen auf Repressionen und verschärfen die Gesetze, die Polizei greift härter durch. Auch die Medien bezeichnen die Ultras nun vermehrt als Chaoten und fordern ein härteres Vorgehen. Die Kantone ziehen nach und übernehmen in den darauffolgenden Jahren die befristeten Massnahmen der EM – und führen sie in das Hooligan-Konkordat über.

Kaspar Meng war von 2015 bis 2023 Sicherheitsverantwortlicher beim FCZ und hat mit dem Hooligan-Konkordat gearbeitet. Für ihn hat das Konkordat auch Schattenseiten. Eine davon ist die fehlende Differenzierung zwischen Pyrotechnik und Gewalt. Meng sagt: «Das Abbrennen von Pyrotechnik gilt als gewalttätiges Verhalten und wird mit Rayonverboten und einem Eintrag in das Hooligan-Informationssystem geahndet.»

Das Zünden einer Leuchtfackel im Rahmen einer Choreografie wird also gleich bestraft wie gewalttätiges Verhalten. Die Südkurve reagiert darauf. Die Ultras versuchen sich zu wehren, sie uniformieren und vermummen sich, um anonym zu bleiben. Gleiche Jacke, gleiche Hose, Sturmmaske: Die Anhänger der Südkurve tragen seither auch einheitliche Schuhe – weisse Reebok Classic.

Andere Fankurven in der Schweiz setzen ebenfalls auf diese Form der Uniformierung. Für die Aussenwelt mag das befremdend wirken, doch für die Ultras ist dies ein Weg, ihre Kultur weiterzuleben.

Pyrotechnik und Gewalt

Pyrotechnik ist ein wichtiger Bestandteil der Südkurve. Kaum eine Fankurve in der Schweiz zündet so spektakulär Leuchtfackeln wie die Zürcher Südkurve. Der Einsatz geht manchmal über die koordinierten Choreografien hinaus, was innerhalb der Südkurve rege diskutiert wird. Deshalb forderte die Südkurve im Oktober 2023 die neue Kurvengeneration auf, Pyroshows zu unterlassen, die nichts mit dem Spielverlauf zu tun haben. «Wir haben genug von den grossen Rauchtöpfen, bei denen aus beiden Enden so viel Rauch qualmt, dass ringsum vor lauter Husten niemand mehr singen kann», heisst es im Südkurven-Heft «Igang 3». Mit solchen Einzelgängen sei die «Grenze zur Peinlichkeit» überschritten worden.

Grenzüberschreitungen gehörten zur Fankultur, sagt ein FCZ-Fan, der regelmässig in der Südkurve steht. Er möchte anonym bleiben, weshalb sein Name hier nicht genannt wird. Er sagt: «Für manche ist die Südkurve auch ein Ventil neben dem Job. Ein Ort, an dem jeder gleich behandelt wird und man seinen Alltagsfrust einfach vergessen kann.» Gewalt sei auch ein Teil der Fankultur, so wie in der Gesellschaft auch.

Ein Thema, das die Medien nur allzu gern aufnehmen, die Schlagzeilen übertreffen sich regelmässig: Fanchaos, Gewaltexzesse und Prügelpartys. Auch diese Zeitung berichtete im Februar über eine gewaltvolle Auseinandersetzung zwischen GC- und FCZ-Fans. Doch ein Blick auf die Statistik zeigt: Die Vorfälle in der Super League gehen zurück, wie das vergangene Berichtsjahr belegt. Auch die Fangewalt nahm gemäss den öffentlich zugänglichen Daten in den letzten Jahren nicht zu, sondern blieb mehr oder weniger konstant.

Das sieht auch Kaspar Meng so. Er hat über zehn Jahre lang eng mit den Ultras zusammengearbeitet. Ein allgemeines Gewaltproblem schreibt er der Südkurve nicht zu. Sie biete eine niederschwellige Möglichkeit für Jugendliche, in der realen Welt andere Jugendliche kennenzulernen und sich gemeinsam für etwas zu begeistern. Die Südkurve ist ausserdem erheblich jünger und weiblicher als vergleichbare Fanszenen in der Schweiz oder im Ausland.

Besondere Anziehung für Jugendliche

Die Zürcher Südkurve übt seit einiger Zeit eine besondere Anziehung auf Jugendliche unter 16 Jahren aus. Der Sporthistoriker Michael Jucker kennt mögliche Gründe: «Die Fankurven sind in der Schweiz die grössten Jugendhäuser. Nach Corona haben die Jungen nach einer Gemeinschaft gesucht, doch in Zürich fehlen vergleichbare Angebote oder grosse Jugendzentren. Die Jugendlichen wollten etwas machen, was Sinn ergibt. Manche wollen sich engagieren, und einzelne suchen vielleicht auch Krawall.»

Die neue Generation und das gestiegene Interesse stellen die Südkurve auf die Probe. Die männlich geprägte Kultur verändert sich, unter den vielen Jugendlichen sind plötzlich auch Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren. Sie wollen dazugehören und innerhalb der Gruppe Verantwortung übernehmen, wie die gleichaltrigen Männer auch. Die Gruppierungen in der Südkurve beschäftigen sich mit dem gestiegenen Interesse, Frauen werden aber noch nicht aufgenommen – auch wenn andere Kurven in der Schweiz da schon viel weiter sind.

Die Südkurve ist in Zürich mehr als nur ein Hype. Sie gehört zum Stadtbild. Das zeigt sich an den Hunderten von Graffiti in ganz Zürich sowie bei den Dutzenden von Kleidungsstücken, die die Jugendlichen mittlerweile auch unabhängig von Spieltagen tragen. Die Südkurve verkauft diese an Ständen hinter der Kurve, das Angebot geht weit über die Uniformierung hinaus. Die Südkurve kann nach Belieben Kleidungsstücke produzieren, die von den Jugendlichen gekauft werden – T-Shirts, Pullis, Mützen, Jacken.

«Mir wärdet immer mee . . .», singt die Südkurve in einem ihrer Lieder. Das stimmt – heute ist sie grösser denn je. Mittlerweile ist die Zürcher Südkurve mehr als 25 Jahre alt. Und so jung wie noch nie.

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